Es ist mir tatsächlich gelungen! Nach einigem Herumgedrücke, einem abgebrochenen Schraubenzieher und diversen laut ausgestoßenen Flüchen konnte ich endlich auf meinem betagten Nokia-Handy meine Emails abrufen. Ohne Anhang und nur mit Lupe versteht sich. Einer echten Lupe, keiner Bildschirmlupe.
Denn seit mich Ende letzter Woche mein Smartphone überraschend und viel zu früh verlassen hat, darbe ich nach einer Nachricht, wann das Ersatzgerät wohl geliefert werden wird. Nicht, dass mir die 16-stellige Paketnummer etwas nützen würde. Das Nokia kann schließlich den ebenfalls beigefügten Tracking-Link nicht öffnen.
Es geschah tückischerweise an einem Samstag, kurz nach Ladenschluss, als die digitale Zentrale meines weltlichen Lebens unversehens aus meiner Jackentasche fiel, die nunmehr nicht mehr schützende Schutzhülle sich wie zum Hohn im Fall öffnete und das Smartphone gleich einem Marmeladenbrot 2.0 mit der falschen, nämlich verletzlichen, Seite laut klirrend auf den Steinboden vor dem gerade schließenden Einkaufszentrum fiel.
Noch immer habe das Gefühl, diese schrecklichen Momente nur in Zeitlupe erlebt zu haben, mein panischer Schrei in einer viel zu unmaskulinen Tonart inklusive. In Zeitlupe erfolgte wohl auch meine rettende Handbewegung: Sie kam schlicht zu spät.
Der Ausfall des Herzschrittmachers meiner Hirnwindungen traf mich hart: Den Weg nach Haus fand ich immerhin noch ohne Navigation. Mich an die Telefonnummern meiner Freunde und die mit ihnen vereinbarten Termine zu erinnern, war dagegen schon ein Ding der Unmöglichkeit.
Endgültig auf kaltem Digital-Detox-Entzug war ich dann zu Hause: CDs hatte ich schon vor Jahren aussortiert, Bücher auf Papier auch. Das Kabelfernsehen war gekündigt, weil sich das ja viel leichter vom – der geneigte Leser ahnt es – Smartphone auf den Fernseher streamen lässt. Ich hatte Hunger, wollte ein Rezept auf Chefkoch.de googeln oder zumindest den Lieferdienst beauftragen und konnte es nicht, weil das Festnetztelefon schon lange nur noch Dekoration war.
Kaltschweißig und mit klopfendem Puls ging ich nach draußen, rüber zu dem Laden, wo wohl mein Stammpizzalieferservice ansässig sein müsste, der zu meinem größten Erstaunen auch vor Ort Speisen und Getränke verkaufte. Gleich daneben hatte in einem muffigen Verschlag ein Internetcafé die Zeit seit der Jahrtausendwende überwintert, ein Relikt aus grauer Urzeit, quasi die Telefonzelle der digital natives.
Während ich mich gedanklich schon darauf vorbereitet hatte, dort mit Netscape ein neues Smartphone bestellen zu müssen, war die Realität dann doch überraschend modern. Doch was heißt das schon, wenn man gleich einem Neunichtraucher gierig nach jeder Wolke Passivrauchs giert, aus purer Freude, unverhofft wieder online sein zu können.
Zeit für eine gründliche Auswahl gab ich mir nicht. Könnte ich in der Zeit reisen, würde ich schnell die Regionalbahn nach heute morgen nehmen. Oder alternativ nochmal das gleiche Smartphone bestellen. Das würde jedoch dauern. Denn unbegreiflicherweise bestehen die Mitarbeitenden von Onlineshops auch in schweren Notfällen wie meinem auf arbeitsfreien Sonntagen für Familie, Freizeit und was auch immer. Fällt das nicht schon unter unterlassene Hilfeleistung?
Es hieß also warten. Bis Dienstag. Am Sonntag waren um 8:24 Uhr sämtliche Spinnen in meiner Wohnung nach draußen umgesiedelt und ihre Hinterlassenschaften entfernt. Um kurz nach 9 hatte ich die seit Wochen um Aufmerksamkeit winselnde Espressomaschine komplett entkalkt und gereinigt. Erstaunlicherweise besaß ich immer noch ein Bügeleisen, mit dem ich bis 09:54 Uhr meine sämtlichen Oberhemden geplättet oder ob mangelnder Übung mit kunstvollen abstrakten Faltenmustern versehen hatte. Um 09:58 Uhr habe ich dann noch schnell die Scharniere der seit 1997 quietschenden Badezimmertür geölt.
Und danach starrte ich dann nur noch. An die Decke. Aus dem Fenster. Zur Tür. Ich starrte. Ich bereitete mir ein frühes Mittagessen um 11:46 Uhr und erwog kurz, dieses mit meiner beim vorangegangenen Aufräumen wieder zum Vorschein gekommenen Sofortbildkamera zu fotografieren und das Foto als Postkarte an meine Freunde zu verschicken. Ein Verdauungsspaziergang nach dem Essen erschien mir wenig sinnvoll, weil ich ja nicht in der Lage sein würde, meine Schritte und die damit verbrauchten Kalorien digital zu erfassen.
Den Rest des Sonntages dämmerte ich irgendwie vor mich hin. Am Montag erwachte ich früh – kein Facebook-Pling hatte meinen Schlaf gestört. Und doch trieb mich ab spätestens 09:58 Uhr die Ungewissheit um, ob mein neues Handy denn nun schon verschickt worden wäre. Mit meinem alten Nokiaknochen müsste ich doch auch irgendwie meine Emails abrufen können?
Beim ersten Versuch, meine SIM-Karte in das Altgerät einzulegen, rutsche ich mit dem Schraubenzieher aus, der sich dann knapp neben dem Handy in die Tischplatte bohrte und dabei zerbrach. Ein notwendiger Kollateralschaden vermutlich. Doch beim zweiten Versuche gelang es und das Handy begrüßte mich mit dem schon lange nicht mehr gehörten Nokia-Klingelton im Zwölftonsound.
Nur wenig später, es muss so gegen 16 Uhr gewesen sein, war es mit endlich gelungen, die Internet- und Email-Zugangsdaten in das alte Nokia einzutippen. Eine verschlüsselte Verbindung hielt man anno 2003 offenbar für entbehrlich. Aber ich war verzweifelt und würde nötigenfalls auch Zuhörer und Mitschreiber akzeptieren müssen. Wobei zu zuhören und mitschreiben vermutlich wesentlich einfacher ist, wenn die Emails quälend langsam Buchstabe für Buchstabe übertragen werden.
Gegen 18 Uhr hatte ich mich durch die 448 seit Samstagabend eingetroffenen Emails gearbeitet und in Email Nummer 447 tatsächlich die Versandbestätigung meines neuen Smartphones gefunden. Beruhigt und erschöpft stellte ich mir den Wecker, ging früh schlafen und machte doch kein Auge zu.
Am Dienstagmorgen irritierte ich reihenweise Nachbarn und Putzdienst, indem ich beim kleinsten Geräusch im Hausflur noch schwitzig, mit Augenringen und wirrem Haar die Wohnungstür aufriss, um ja nicht den Postboten zu verpassen. Die garantierte 8:30-Uhr-Lieferung kam schließlich um 9:12 Uhr an, erlöste mich von meine Qualen und brachte mein Leben zurück in geordnete Bahnen.
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